VORWORT

Februar 2018. Die Lüneburger Erstsemester-Studierenden befinden sich in den letzten Zügen des zehnten Leuphana-Semesters. Zehn Jahre liegt die Neuausrichtung der Universität Lüneburg als Leuphana nun schon zurück. Ein Grund zum Feiern? Für die einen schon, für andere wohl nicht. Aber ein Grund zum Reflektieren und zum Zurückschauen auf die Ereignisse der Vergangenheit allemal.

Februar 2006. »Grüne Rasenflächen, grüne Bäume, keine Autos, davor sollte ein großes Tor stehen – das wird ein Campus wie in England«, beschreibt Sascha Spoun seine Vorstellungen von der neuen Gestaltung des Universitätscampus kurz nach seiner Wahl in einem Interview mit Spiegel Online. Was uns an tatsächlichen tiefgreifenden Veränderungen des Campus erwarten würde, klingt hier noch nicht durch. Aber dass das neue Präsidium große Pläne für die Zukunft hat und sich so einiges ändern sollte, das wird schnell deutlich. Schon im darauffolgenden Jahr kommt es zur Umtaufung: Man arbeitet, forscht und studiert nicht mehr an der Universität Lüneburg, sondern an der Leuphana. Es lasse sich in Lüneburg Vieles erreichen, wenn alle an einem Strang zögen, sagt Spouni. Doch es gab und gibt viel Kritik an den Entscheidungen, die unter der Marke Leuphana getroffen wurden und den Ereignissen, die zur Marke beigetragen haben. Und sogar der Widerstand ist, wie all die anderen Prozesse, untrennbar mit der Marke verwoben. Viele Universitätsmitglieder, darunter vor allem Studierende, brachten ihren Missmut zur Sprache; sei es bezüglich der Umbenennung, der Etablierung des neuen Studienmodells, oder eben bezüglich der Entschlüsse, die zum prominentesten Beispiel führten: dem Libeskind-Gebäude. Wenn in der Entwicklung der Universität an einem Strang gezogen wurde, ähnelte dies wohl eher einem unbalancierten Tauziehen. Aber liegt das an einer prinzipiellen Antipathie, an mangelnder Kooperationsbereitschaft oder einer grundlegenden Abneigung einiger Ewiggestriger gegenüber Veränderungen? Zu erläutern, was hinter der Kritik an Leuphana steckt, was überhaupt passiert ist und warum dem AStA immer nachgesagt wird, er sei ›anti‹, ist die Idee dieser ›kritischen Festschrift‹: Sammeln von kritischen Argumenten, Herstellen von Verknüpfungspunkten und der resümierende Blick zurück, welche Kritik angemessen und sinnvoll war, welche nicht und was es daraus zu lernen gibt. Dabei soll nicht aus den Augen verloren werden, in welchem Kontext Leuphana entstanden ist und in welchem Rahmen sich Universitäten heute allgemein bewegen. Viele der Entscheidungen, die die Universität an ihre heutige Position gebracht haben, wurden nicht in Lüneburg, sondern in Hannover, Berlin oder Bologna getroffen. Doch letztendlich ist die Universität, wie wir sie heute haben, ein Zusammenspiel vieler Faktoren, ein Zusammenspiel von regionalen und überregionalen Kontexten. Wer neu an diese Universität kommt, soll die Möglichkeit haben, sie als Ergebnis von vergangenen Entscheidungen wahrzunehmen: Leuphana ist weder naturgegeben, noch alternativlos. Was ist also passiert, bevor die Universität Lüneburg zur Leuphana geworden ist? Kontinuierliche Unterfinanzierung, Gerüchte über die Schließung der Universität, aber gleichzeitig eben doch solide Beliebtheit unter den Studierenden und gut angenommene Innovationen wie die Einrichtung des Studiengangs Umweltwissenschaften dominieren das Bild der Universität. Es gibt sie also: die Universität Lüneburg, die nicht Leuphana ist. Mit dem Übergang in die Trägerschaft einer Stiftung öffentlichen Rechts ereignet sich Anfang des neuen Jahrtausends die erste weitreichende Veränderung an der Lüneburger Universität. 2005 wird das nächste große Experiment der Hochschulentwicklung in Lüneburg durchgeführt. Die Universität fusioniert mit der Fachhochschule Nordostniedersachsen: es soll eine ›Modelluniversität für den Bologna-Prozess‹ entstehen. Als das neue Präsidium gewählt ist, wird ab 2007 die Neuausrichtung der Universität als Leuphana realisiert. Nach und nach werden das Leuphana-College, die Leuphana-Graduate School und die Leuphana-Professional School eröffnet. Sowohl lokal als auch national regt sich in den darauffolgenden Jahren Protest. In Lüneburg herrscht großer Unmut über die Schließung des Studienganges Sozialpädagogik. In ganz Deutschland findet 2009 der Bildungsstreik statt, der sich gegen die Ökonomisierung von Bildung richtet und mehr Mitsprache in Bildungsinstitutionen fordert. In Lüneburg bringt jedes der darauffolgenden Jahre weitere Neuigkeiten: 2009 wird das EU-Förderprojekt ›Innovations-Inkubator‹ genehmigt, 2010 die vier Fakultäten in ihrer heutigen Form gegründet und im Jahr 2011 folgt die Grundsteinlegung für das neue Zentralgebäude, welches nicht nur in Lüneburg alle Beteiligten noch lange beschäftigen sollte. Die Wiederwahl von Sascha Spoun und Holm Keller verläuft – im Anschluss an die Erfahrungen mit den ersten Jahren Leuphana – alles andere als rund. Von einigen Seiten ist die Unzufriedenheit mit dem eingeschlagenen Kurs deutlich spürbar. Schließlich werden die beiden 2012 wieder an die Spitze der Universität gewählt. Bis zum Regierungswechsel 2013 ebbt die Kritik an Leuphana ab, doch recht schnell gibt es weitere Anlässe zum Protest. Die Preissteigerungen beim Zentralgebäudebau können nicht mehr geleugnet werden. 2014 verfasst die Oberfinanzdirektion eine baufachliche Stellungnahme und äußert scharfe Kritik. Der Allgemeine Student*innenauschuss und das Student*innenparlament fordern den Rücktritt von Spoun und Keller. Doch das Präsidium bleibt im Amt und mit der Zeit scheinen die Wogen sich zu glätten. Holm Keller verlässt die Universität auf eigenen Wunsch im Jahr 2016. Das Zentralgebäude wird 2017 eröffnet: viel später als geplant und deutlich teurer als versprochen. Im Oktober 2017 beginnt das zehnte Leuphana-Semester mit der Startwoche. Die Erstsemester werden von Präsident Spoun begrüßt. Für viele an der Universität schon fast Routine. Wohl alle, die hier im Bachelor eingeschrieben sind, haben ihr Studium so begonnen. Doch es gibt auch Mitglieder der Universität, die schon an der Fachhochschule gelehrt und geforscht haben und ganz andere Seiten der Hochschule(n) in Lüneburg kennen. Diese Studierenden und Lehrenden sitzen in den gleichen akademischen Gremien und sollen über die zukünftige Entwicklung der Universität mitentscheiden. Es erscheint nur fair, den Studierenden und Lehrenden die Möglichkeit zu geben, sich auch mit der vergangenen Entwicklung der Universität differenziert auseinanderzusetzen. Der AStA, als Teil der studentischen Selbstverwaltung, kann Prozesse in den akademischen Rahmenbedingungen begleiten, ohne selbst aktiv daran teilhaben zu müssen. Er kann damit die ständig benachteiligte Studierendenperspektive unterstützen und einen emanzipativ orientierten Gegendiskurs zum dominanten Narrativ von Regierungen und universitären Akteur*innen öffnen. Leuphana verstehen zu können, ist ohne einen Blick auf ihre Vorbedingungen, auf ihre (Vor-)Geschichte nicht möglich. Daher haben wir verschiedenste Themen und Perspektiven ausgewählt, die von unterschiedlichsten Menschen verfasst wurden: von Studierenden, Mitarbeiter*innen der Universität, Dozierenden und Ehemaligen. Im Eröffnungsartikel schreibt Caspar Heybl das ›alte Testament‹ und skizziert die Universität Lüneburg vor der Leuphana-Apotheose. Nachdem erklärt wird, was es eigentlich mit der Gründung der Stiftungsuniversität im Jahre 2003 auf sich hat, bewertet Prof. Dr. Müller-RommeI in einem Interview mit der Landeszeitung Lüneburg aus dem Jahr 2012 die Umsetzung des Modells. Dass die Fusion der Universität Lüneburg und der Fachhochschule Nordostniedersachsen keine leichte Aufgabe darstellte, wird neben einem kleinen Überblick über die Geschehnisse durch Interviews mit wichtigen Zeitzeug*innen deutlich werden: die ehemalige Fachhochschulpräsidentin Prof. Dr. Christa Cremer-Renz, Universitätsdozent Prof. Dr. Peter Pez und der ehemalige AStA-Sprecher der Fachhochschule Dr. Ernst Roidl geben uns interessante Einblicke in die damaligen Ereignisse. Torsten Bultmann kritisiert das Prinzip der unternehmerischen Hochschule und geht damit auf einige zentrale Rahmenbedingungen von Leuphana ein. Auch die Bologna-Reform als Voraussetzung findet Eingang in unsere Schrift. Was passierte eigentlich genau, als Sascha Spoun – der amtierende Präsident der Leuphana – die Präsidentschaft übernahm? Den Prozess der Berufung, die folgende Neuausrichtung und den Umgang damit hat Linda Macfalda aus Aussagen mehrerer Zeitzeugen*innen, Presseberichterstattung und Originaldokumenten rekonstruiert. Wie sich die Wiederwahl von Spoun und Keller abspielte, beschreibt Kevin Kunze in seinem Artikel und betont die Ungereimtheiten genau wie die Polarisierung, die dabei zustande gekommen sind. Daniela Steinert fasst die Ergebnisse ihrer Magisterarbeit zusammen, in der sie den Diskurs um die Neuausrichtung und die Selbstdarstellung der Universität als Leuphana untersucht hat. Warum häufig bewusst auf Leuphana verzichtet wird, wird nicht nur aus einer früheren Stellungnahme zur Umbenennung der Universität von Matthias Schröter und Sebastian Heilmann deutlich, sondern auch aus dem Kommentar aus der heutigen Perspektive von Susanna Dedring und Jasper Kahrs. Wirtschaftliche Verflechtungen und die Krux mit der Hochschulfinanzierung werden anhand einiger Schlüsselbegriffe kritisch erklärt.

Das Libeskindgebäude: ein Symptom neoliberaler Hochschulpolitik. So argumentieren Kevin Kunze und Thorben Peters, indem sie den geschichtlichen Ablauf und Werdegang des Gebäudes noch einmal rekonstruieren. Dass dort, wo jetzt das neue Gebäude steht, eigentlich mal wer anders gelebt hat, beleuchtet Lea Konow: Sie erinnert daran, dass einst die Haubenlerche, die zum Protestmaskottchen gegen das Zentralgebäude wurde, auf dem ehemaligen Parkplatz hauste. Wie sich der Bauprozess aus landespolitischer Perspektive gestaltete, legt Victor Perli als früherer Landtagsabgeordneter dar. Lisa Habigt und Jonas Korn haben analysiert, inwiefern Nachhaltigkeit – ein stark fluktuierender Begriff an der Leuphana – auch wirklich in die Tat umgesetzt ist und welches Verständnis von Nachhaltigkeit in der Universität eigentlich kursiert. Die Schließung des Studiengangs Sozialpädagogik hat viel Protest zur Folge gehabt. Wie die Universität mit diesen Protesten umgegangen ist, berichtet uns Heike Hoja aus ihrer eigenen Erfahrung.

Als Student*innenschaft ist Schwerpunkt unserer Arbeit zur Universitätsentwicklung das Studium. Das Studienmodell der Leuphana wird von Prof. Dr. Matthias von Saldern aus Lehrendenperspektive und von Linda Macfalda aus Studierendenperspektive bewertet. Ronja Hesse hat einen Blick auf die bisher stattgefundenen Startwochen geworfen und zusammengefasst, welche Kritik angebracht ist. Das Auswahlverfahren, das eine weitere Besonderheit des Studiums an der Leuphana darstellt, wurde von Jana Höbermann analysiert.

Im Verlauf der letzten zehn Jahre wurden die Entwicklungen, die in dieser Schrift als Gesamtbild betrachtet werden, selbstverständlich auch immer wieder kommentiert und bewertet. Franziska Krämer fasst diese Stimmen in ihrem Beitrag zu zehn Jahren Diskurs zusammen und macht verschiedene Standpunkte deutlich. Wir wollen zurückblicken, um Vergangenes kritisch zu reflektieren. Dennoch soll die Reflexion nicht einzig Selbstzweck sein. Nein, vielmehr soll der Einblick in die Kritik der vergangenen Jahre aufzeigen, was gut war und was besser gemacht hätte werden können. Und vor allem ermutigen, selbst aufmerksam und engagiert am universitären Leben teilzuhaben. Was kritische Gremienarbeit bewirken kann und wie Fehler umgangen werden können, wird daher abschließend in einem Beitrag des Senatsmitgliedes Dr. Corinna M. Dartenne thematisiert.

Wir freuen uns sehr, dass drei ehemalige Studierende der Universität Lüneburg, die jetzt in der Politik aktiv sind, sich bereit erklärt haben, ein Grußwort für unsere Schrift zu verfassen: Der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion und Sprecher für Wissenschaft und Kultur – Jörg Hillmer – sagt uns, warum das zehnjährige Bestehen der Leuphana für ihn ein Grund zum Feiern sei. Miriam Staudte – stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis‘90/ Die Grünen im Landtag – betont, dass die Geschichte der Universität Lüneburg von guten, aber auch schlechten Geschehnissen durchzogen sei. Und schließlich erzählt uns der Fraktionsvorsitzende der Partei die LINKE im Rat der Stadt Lüneburg – Michèl Pauly – was er mit der Geschichte der Leuphana assoziiert, die er als Student und als aktives Gremienmitglied noch bis vor Kurzem miterlebt und -gestaltet hat.

Wir wünschen viel Freude, neue Erkenntnisse und Inspirationen bei der Lektüre!

Kevin Kunze, Natalia Sophie Leipholz und Linda Macfalda Herausgeber*innen der Schrift im Namen des AStA Universität Lüneburg